Wo auch immer du bist | Jessica Schade
Leseprobe
›Wo auch immer du bist …‹
Jessica Schade
Ein siebzehnjähriges Mädchen, das mehr und mehr den Stimmen in seinem Kopf zu verfallen droht.
Eine junge Künstlerin, die ihr einsames Leben ganz und gar der Herstellung ihrer Zinnfiguren und der Restauration alter Möbel verschrieben hat.
Ein altes, halb verfallenes Haus mit einer dunklen Vergangenheit.
Und zwei Frauen, die wissen, wie alles zusammenhängt.
Prolog
Die Wärme des Feuers, das im Ofen seinen ganz eigenen kleinen Tanz vollführte, brannte sich in meine Haut. Erschöpft von der Arbeit, ließ ich mich auf dem kühlen Steinfußboden meines Ateliers nieder. Trotz der unheimlichen Wärme, die hier in der Luft lag, blieb es am Boden immer angenehm kühl. Das Gemäuer des Ateliers war schon sehr alt und ich nahm an, bei genauerem Hinsehen würde man so manches Luftloch vorfinden, das mir hier den Sauerstoff verschaffte, den das Feuer leidenschaftlich gern verbrannte. So, wie es auch die Gedanken verbrannte, die mich immer und immer wieder in seine Nähe trieben und mich nicht gehenlassen wollten. Gedanken, die sich in dem widerspiegelten, wofür das Feuer brannte.
Mein Blick flog über die unzähligen Glasfiguren hinweg, die hier in den Schränken und Regalen ihren Platz gefunden hatten. Es war nur ein kleiner Teil der Figuren, die ich in den vielen vergangenen Jahren hier geschaffen hatte. Trotzdem schienen sie die ganze Welt in sich zu tragen.
Es waren Darstellungen von Menschen, die gerade das Licht der Welt erblickten, Menschen, die ihre ersten Schritte taten, Menschen, die Freunde fürs Leben fanden und die vollen Lebensmutes die Welt erobern wollten. Aber es waren auch Menschen, die eben daran scheiterten. Es waren sterbende Menschen, leidende Menschen und Menschen, die diejenigen verloren, die ihnen die Liebsten waren.
Ich saß am Boden dieser Welt aus Glas. Vor mir stand ein kleines Mädchen. Auch das Mädchen war aus Glas. Ihre langen Haare wehten fröhlich im Wind und auf ihren Lippen lag ein schalkhaftes Lächeln.
Ich fragte mich, was sie wohl gerade tat. Wo sie gerade war. Und ob sie immer noch so glücklich war wie damals. Aber so oft ich mir diese Fragen auch stellte, ich erhielt doch keine Antwort darauf. Stattdessen trug ich die Fragen zum Feuer und ließ sie in den Tanz einfließen, den das zähflüssige Glas unter meiner Hand vollführte.
Ein kalter Windstoß öffnete schwungvoll die Tür des Ateliers und ließ meine Skizzen an den Wänden aufgeregt nach oben flattern. Ich erhob mich und verließ meine kleine Künstlerhöhle, die eigentlich nur das Abstellzimmer des eigentlichen Ausstellungsraumes war. Eine junge Frau hatte sich zu mir verirrt und begutachtete interessiert die gläsernen Figuren, die auch hier die Regale füllten. Ich mochte es, erst einmal heimlich die Leute zu beobachten, die mich hier aufsuchten. Jeden zog es in eine andere Ecke und jeden fesselte irgendein Kunstwerk ganz besonders.
Die Frau war vor dem Höchsten der Regale stehengeblieben. Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare und verschränkte sie dann hinter ihrem Rücken. Ich konnte es nicht genau beschreiben, doch irgendwie kam mir die Art, wie sie sich bewegte, vertraut vor. Als hätten wir uns schon einmal gesehen. Als hätte sie schon einmal hier gestanden und ich hätte sie auf diese Weise beobachtet.
Ich räusperte mich leise. So leise, dass sie es nicht zu vernehmen schien.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich schließlich und zuckte zusammen, als sie sich erschrak. Die Frau wandte sich zu mir um und starrte mich unverhohlen an. Ich starrte zurück und sah in meine eigenen Augen. [… ]
Gesa
Es war dunkel im Raum. So, dass ich noch sehen konnte, wo alles war und mich bewegen konnte, ohne diverse Möbel zu touchieren, aber dunkel.
Ich hielt auf die alte Anrichte mit den unzähligen, kleinen Schubfächern zu und griff gezielt nach einer Packung Streichhölzer, um die reich verzierte Petroleumlampe zu entzünden, die wie immer an ihrem Platz stand. Die Flamme eines der kleinen Streichhölzchen wuchs schlagartig zu einem den Raum ausfüllenden, schummrigen Licht heran, sobald sie mit dem Docht der Lampe in Berührung kam. Vorsichtig transportierte ich sie zu einem der Fensterbretter nahe der Werkbank, die ich selbst vor Jahren aus Backsteinen erbaut und mit einer robusten Arbeitsplatte versehen hatte. Ich schob die Stapel mit Blockschiefer beiseite, um Licht zum Arbeiten zu haben.
Es gab keinen Ort auf dieser Erde, an dem ich mich wohler fühlte als im Schutze der Dunkelheit. Das war zwar nicht immer praktisch zum Arbeiten, doch im Laufe der Jahre hatte ich gelernt, meiner künstlerischen Tätigkeit im Spiel der Flamme nachgehen zu können.
Ich griff nach einer meiner neuesten Skizzen und versuchte, mich wieder in die vor Tagen zu Papier gebrachte Begebenheit hineinzuversetzen und die Gefühle heraufzubeschwören, die mich zu dieser Zeichnung getrieben hatten.
Ich hatte damals den Bericht eines Soldaten gefunden, der eigenmächtig und noch in altem Deutsch die Schlacht bei Hochkirch im Oktober 1758 bis ins kleineste Detail beschrieben hatte, bei der er selbst dabei und unter den Kämpfenden gewesen war. […]
Eigentlich war es wohl mehr der Umstand, dass diese Beschreibung der Schlacht bei Hochkirch von einem Augenzeugen stammte, der direkt bei dem Gefecht dabei gewesen war, der mich so faszinierte, als der historische Umstand an sich. Wie häufig hatte man schon einen direkten und unverfälschten Einblick in die Gedanken und Handlungen eines Menschen, der im Jahre 1758 gelebt hatte?
Mit den Fingerspitzen fuhr ich bedächtig die mit Bleistift gezeichneten Konturen des Soldaten nach und versuchte mir jede einzelne meiner Bewegungen genau einzuprägen. Erst dann, als ich das Gefühl hatte, die Szenerie im Traum nachzeichnen zu können, griff ich nach einem der Blockschiefer und begann, mit einem hauchzarten Stichel die vorher auf Papier festgehaltenen Konturen sorgfältig herauszuarbeiten. Zuerst ganz grob und nur die Umrisse der Figur. Mit einem Stück Knete, das ich gegen die Form presste, überprüfte ich, wie mir diese Umrisse gelungen waren. An der ein oder anderen Stelle musste ich noch mehrmals neu ansetzen, bevor ich schließlich damit beginnen konnte, die Feinstrukturen in den Blockschiefer zu gravieren und meiner Figur ein Gesicht und ihre Individualität zu verleihen.
Die Geschichte des Soldaten und seine Schilderung der damaligen Begebenheiten zogen mich so tief in ihren Bann, dass es eine ganze Weile dauerte, bis ich das leise Summen registrierte, das mein Laptop in der anderen Ecke des Raumes von sich gab. Ich legte den Stichel beiseite und tastete mich mit dem Licht der Petroleumlampe im Rücken zu meinem Schreibtisch, von dem unter den vielen Papieren, die sich darauf stapelten, kaum noch etwas zu sehen war. Sobald ich den Laptop aufklappte, erwachte dieser aus dem Schlafmodus und ich öffnete Gesa´s Kummerkasten. Ich hatte eine neue Nachricht erhalten. […]
[Wo auch immer du bist
Datum der VÖ: 15. Juli 2022]
© Text & Cover: Jessica Schade
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
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