18. Oktober 2024

Sigune Reichardt

Meine allererste Geschichte schrieb ich in der sechsten Klasse. Der ‚Held‘ war ein australischer Windhund. Veröffentlicht habe ich sie nie, allerdings habe ich auch nie aufgehört, mir Geschichten auszudenken. Schon während des Anglistik-Studiums träumte ich davon, eines Tages selbst einen Roman zu schreiben: einen historischen über die Gestalten aus der Sage um König Artus und die Ritter der Tafelrunde, die mich faszinierte, seit ich zwölf war. Mein Professor erlaubte mir, in meiner Magisterarbeit unter Berücksichtigung der mittelalterlichen Quellen vier zeitgenössische „Artusromane“ im Hinblick auf einen feministischen Aspekt zu vergleichen. Nach dem Studium blieb ich nicht nur Vielleserin, sondern übersetzte auch Bücher aus dem Englischen ins Deutsche.

Erst mit Anfang dreißig begann ich jedoch, die Geschichten, die mir selbst einfielen, tatsächlich aufzuschreiben, und zwar im Rahmen der Therapie gegen meine immer wiederkehrenden Depressionen. Kurzgeschichten, zunächst, die ich zum Teil im Gemeindebrief meiner damaligen freikirchlichen Gemeinde veröffentlichen durfte. Denn mein Glaube war schon damals Thema meiner Erzählungen. Die Reaktionen darauf bestärkten mich: Endlich setzte ich meinen ‚alten‘ Traum um, einen historischen Roman zu schreiben.

Das Setting meines erstmalig im Jahr 2020 unter meinem bürgerlichen Namen veröffentlichten Romans war dann allerdings nicht das Mittelalter, sondern das römische Kaiserreich. Obwohl sich schon in den über zehn Jahren, die ich für die Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Entstehung einer der ersten christlichen Gemeinden brauchte, immer wieder Zweifel an dem Glauben regten, den ich mit aller Ernsthaftigkeit zu leben versuchte, hätte ich nicht damit gerechnet, dass ich nach seiner Veröffentlichung zu dem Schluss kommen würde, dass dieser Glaube nicht wirklich meiner war.

»Die Gegenüberstellung von Christentum und (Neo-)Heidentum in meinem Roman hat nicht zum Ziel, das eine ab- und das andere aufzuwerten, wie das Ende von Kays Geschichte hoffentlich sehr deutlich macht.«
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Das eigene erste Buch nicht mehr vertreten zu können, ist kein schönes Gefühl. Zudem war ich zwar als Frauenliebende endlich aus dem Schrank gekrochen, stand aber nun fast völlig ohne soziales Netz da. Ebenfalls kein schönes Gefühl. Und nun? Zur Atheistin – „Es gibt nichts, was nicht empirisch greifbar ist“ – bin ich nicht geschaffen. Zur Agnostikerin – „Kann schon sein, dass da irgendwas ist“ – ebenfalls nicht. Zurück konnte und wollte ich nicht und der Weg voran lag für mich im Dunkeln. An diesen Punkt hatte mich mein erster Roman geführt. Ob ein zweiter mir von hier aus weiterhelfen würde?

Er hat. Nach und nach. Wirklich erkannt und angenommen habe ich meinen ganz persönlichen spirituellen Weg erst in der letzten kreativen Projektphase zu Kays Quest – eine fantastische Reise ins Wohin, im Oktober ´23. Doch geht es mir nicht darum, zwei spirituelle Wege gegeneinander auszuspielen. Die Gegenüberstellung von Christentum und (Neo-)Heidentum in meinem Roman hat nicht zum Ziel, das eine ab- und das andere aufzuwerten, wie das Ende von Kays Geschichte hoffentlich sehr deutlich macht. Die beiden Weltanschauungen, zwischen denen die Hauptfigur sich bewegt, sollen vielmehr stellvertretend stehen. Kays Weg soll verdeutlichen, dass Dialog zwischen unterschiedlich Lebenden, Glaubenden, Denkenden und Empfindenden möglich wird, wenn gegenseitiger Respekt dem Miteinander zugrunde gelegt wird. Der Anspruch, die Wahrheit und die ‚richtige‘ Denk- und Lebensweise für sich gepachtet zu haben, steht einem solchen Miteinander logischerweise im Weg. Mein Roman feiert die Vielfalt – und hat zum Ziel, sie meinen Lesenden schmackhaft zu machen.

Neulich fuhr ich über eine Brücke, die zwei dänische Inseln miteinander verbindet. Während unter mir und meinem Auto das Ergebnis hoher Konstruktionskunst stabilen Betonboden über der Ostsee bot, habe ich mir gewünscht, dass auch mein Roman als Brücke dienen wird: als Brücke zwischen Queeren und Personen, die Queerness bis jetzt nicht „verstehen“; als Brücke zwischen Menschen, die verschiedene Weltanschauungen vertreten und nicht zuletzt als Brücke zwischen Angehörigen unterschiedlicher Ethnien und Kulturen.

Text © Sigune Reichardt;
Foto © Fotografie Anneser, Arnsberg;
Logo © Nicole Kruska;
mit freundlicher Genehmigung.
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