Leseprobe Du bist ja plemplem | Barbara Corsten
Exklusive Leseprobe
Barbara Corsten
Maxi, der auf einem Drehstuhl Karussell gespielt hatte, sprang auf. »Tom, da bist du ja.« Jäh wurde er kleinlaut. »Bist du sauer auf mich, weil ich abgehauen bin?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Maxi. Aber ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht. Du weißt doch, dass du nicht einfach weglaufen darfst? Wo wolltest du überhaupt hin?«
»Zum Weihnachtsmann!«, verkündete er strahlend. Dann verdunkelte sich sein Blick wieder. »Aber ich wollte kein dummes Geschenk. Nur…«
Ich sah wieder Tränen in seinen Augen. Ohne ein Wort zu sagen, trat ich auf ihn zu. Diesmal schloss ich ihn fest in die Arme. Maxi umschlang meinen Hals und legte seinen Kopf an meine Schulter. Seine Tränen durchnässten meine Jacke.
»Maxi, was ist denn mit dir los? Du bist heute ja von himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt, innerhalb eines Atemzugs.«
Ratlos sah ich Matthias Sünder an.
Der räusperte sich. »Wir konnten Maxi gerade noch davon abhalten, oben vom Parkdeck aus auf den Schlitten zu klettern.«
Mir wurde übel. In der Weihnachtszeit wurde an der Außenfassade immer ein riesiger Weihnachtsschlitten samt Rentieren präsentiert. Von weitem sah es aus, als mache er sich auf den Weg zum Nordpol, um Santa abzuholen. Er war jedoch nur aus Plastik. Das dünne Holzgerüst, auf dem er stand, wurde lediglich mit einer Halterung an der Brüstung des Parkdecks eingehängt und mit Seilen gesichert.
»Mein Gott, Maxi!«, sagte ich.
»Aber du hast gesagt, wenn ich mir etwas fest genug wünsche, dann bringt der Weihnachtsmann es mir. Ich wollte es ihm selbst erzählen. Damit er weiß, wie wichtig es ist.« Ein Schluchzen schüttelte seinen Körper. »Wenn ich es mir ganz fest wünsche, dann macht er mich vielleicht so schlau wie dich. Dann sagen die Leute nicht mehr plemplem zu mir und ich kann mich mit den anderen über die Eisenbahn unterhalten, ohne, dass ihre Eltern sie wegziehen.«
Meine Augen flossen über. Auch Matthias wischte sich kurz übers Gesicht. Ich fühlte mich furchtbar. Selten wurde mir meine Hilflosigkeit bewusster als in den Momenten, in denen ich Maxi keine gnädige Erklärung bieten konnte. Ich konnte nichts anderes tun, als ihn in meinen Armen zu wiegen. Dabei wisperte ich tröstende Silben in sein Ohr, die keinen Sinn ergaben. Sie konnten sein Problem nicht lösen.
»Das würde er nicht tun, weil du dann nicht mehr mein Maxi wärst, mein Lieblingsbruder. Um wen soll ich mich kümmern, wenn du mich nicht mehr brauchst?«
»Ich bin dein Lieblingsbruder?«
Vehement nickte ich. Es spielte keine Rolle, dass er mein einziger Bruder war.
»Nicht nur mein Lieblingsbruder, sondern auch mein Lieblingsmensch.« Ich meinte jedes Wort, wie ich es sagte.
Plötzlich lag das Bild eines allein stehenden Mannes vor mir. Haltlos, familienlos … einsam. Nicht ich war der mildtätige Bruder, der sich aufopferte. Maxi war mein Anker in einem Leben, das schon früh ohne Stütze gewesen war, weil meine Mutter sich fast ausschließlich um ihn gekümmert hatte. Ich hatte es ihr einfach nachgemacht. Dadurch hatte ich den Halt im Leben gefunden, den jeder Mensch auf die eine oder andere Art braucht.
Maxi hob den Kopf. Aufmerksam sah er mich mit seinen verweinten blauen Augen an. Ihre Farbe leuchtete durch die vergossenen Tränen stärker denn je. »Und wenn ich mir wünsche, dass es Batman doch gib? Dann kann er alle Leute ins Gefängnis stecken, die mich ärgern. So, wie er den Joker eingesperrt hat.«
Für einen kurzen Moment musste ich die Augen schließen. Ich wollte nicht, dass er das Mitleid in ihnen erkannte. Mama hatte versucht, ihn so selbstständig wie möglich zu erziehen, doch er würde immer auf meine Hilfe angewiesen sein. Wie es aussah, hatte ich meinen Job nicht gut genug erledigt. Mama hatte ihre Zeit nie mit Mitleid verschwendet.
»Mitleid macht schwach, Tom.« Das hatte sie mir gesagt, als ich bittere Tränen weinte, weil Maxi sich durch eine Sprachtherapie quälte. »Es hilft weder dir noch ihm. Fördere, fordere und liebe ihn bedingungslos. Nur damit hilfst du deinem Bruder.«
Ein Räuspern holte mich abrupt in die Gegenwart zurück. »Maxi, wer ärgert dich denn?«, fragte Matthias. »Kann ich dir helfen?«
»Die in der Küche von der Werkstatt. Sie stellen mir immer ein Bein und lachen, wenn mir die Teller runterfallen. Und wenn ich es dem Werkstattleiter erzähle, sagen sie, ich lüge. Niemand glaubt mir.«
Maxi – mein armer Maxi.
»Warum hast du es mir nicht gesagt? Ich hätte dir doch geholfen.«
Die Werkstatt tat nicht nur ihre eigentliche Arbeit. Mit dem angegliederte Behindertenheim gab sie auch Schulabbrechern und Kindern aus schlechten Sozialverhältnissen die Chance, in verschiedene Berufe hineinzuschnuppern. Auf diese Weise versuchte man ihnen durch feste Zeiten Strukturen zu vermitteln, die manche von ihnen nie kennengelernt hatten. Maxi arbeitete nur in der Werkstatt, wohnen tat er bei mir. Erst jetzt fiel mir auf, dass er in letzter Zeit nicht mehr viel darüber erzählt hatte.
»Sie haben gesagt, wer würde einem bekloppten Behindi wie mir schon glauben. Tom, ich will kein bekloppter Behindi mehr sein.«
Erneut wollten seine Tränen fließen.
»Weißt du was, Maxi?«, fragte Matthias. »Morgen bringe ich dich in die Werkstatt und werde ein ernstes Wort mit denen in der Küche sprechen. Was hältst du davon?«
Maxi sah ihn hoffnungsvoll an und wies mit der Hand auf ihn. »In deiner Uniform?«
Selbst ich musste zugeben, dass Matthias in der schwarzen Uniform der Sicherheitsfirma eindrucksvoll aussah.
[Du bist ja plemplem | Datum der VÖ: 16. März 2020]
© Text und Cover: Barbara Corsten | deadsoft Verlag;
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
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