Wahlfamilien en gros: Band 2 der Chroniken zwischen Innen und Außen
Leseprobe
›Wahlfamilien en gros:
Band 2 der Chroniken zwischen Innen und Außen‹
Martin Engelbrecht
Wer Becky Chambers liebt, wird auch dieses Buch mögen. Unter den Menschen des Planeten Bitter (jede Ähnlichkeit mit der Erde ist rein zufällig) lebt eine bunte Mischung mehr oder weniger queerer Mutanten: Hexen, Schmiedinnen, Telepathen und viele andere. Das Liebespaar Ama und Mara, das gerade drei ziemlich seltsame Kinder adoptiert hat, versucht, sich und ihren telepathischen Schicksalsgenossen einen Platz in der menschlichen Gesellschaft zu verschaffen. Doch dafür müssen sie sich in den Dienst der Regierung stellen. Die beauftragt sie, Außerirdische zu finden, die sich ebenfalls auf Bitter niedergelassen haben. Also machen sich Ama, Mara, ihre Kinder und ihre Freunde an die Arbeit und werden bald fündig. Doch was sie finden, wird sie und ihre Welt für immer verändern…
Die Heldinnen und Helden des mehr als nur ein wenig satirischen Steampunk-Fantasy-Romans “Wahlfamilien en gros” plagen sich nicht nur mit fliegenden Monstern und übelwollenden telepathischen Flüssigkeiten herum. Sie haben Hautprobleme, Ängste, Vorurteile und Behinderungen, ja sie müssen sogar gelegentlich auf’s Klo (was für Fantasy-Helden recht ungewöhnlich ist). Sie suchen ihren Platz in einer sich rasch verändernden Welt widerstreitender Religionen, sich bekriegender Staaten und feindseliger Ideologien und basteln dabei hartnäckig an ihrem persönlichen Glück. Manchmal klappt das sogar, es handelt sich schließlich um Fantasy.
“Wahlfamilien en gros” ist der zweite Roman einer Serie, kann aber als eigenständige Geschichte gelesen werden. In einer kleinen Einführung wird der Inhalt des ersten Teils “Ableger und andere Wege sich fortzupflanzen” erzählt. Am Ende steht ein ausführliches “Wer ist wer?”, das den Leserinnen und Lesern hilft, sich in der bunten Welt Bitter zurechtzufinden.
Énvo ließ die sperrige Papiertüte auf den überladenen Küchentisch sinken. Zwei besonders unternehmungslustige Brotzwiebeln kullerten heraus. „Wieso noch einmal die ‚Suppe der Zuneigung’“, fragte er enttäuscht.
„Mdjándja hat eine Dings, eine Hypotenuse“, sagte Tín, wieder fleißig am Schälen.
„Eine Hypothese“, verbesserte Énvo reflexhaft.
„Sowas in der Art“, erwiderte Tín grinsend. „Sie meinte, wir können das am besten an einer Suppe überprüfen, die wir schon mal gemacht haben.“
„Du hattest Recht“, sagte die Wissenschaftlerin, die sich gerade durch die Küchentür schob. Sie ging zum Spülbecken und wusch sich ausgiebig die Hände.
„Die Fünfecke sind so was wie ein Schlüssel“, fuhr sie fort.
Sie trocknete sich die Hände an einem löchrigen blauen Handtuch, das schon bessere Tage gesehen hatte. Dann zog sie einen Beutel aus den riesigen Taschen ihrer weiten, schlottrigen Hosen und warf ihn Énvo zu.
Darin fand der junge Arzt fünf runde Pappscheiben, auf die Mdjándja die Pfeilsysteme kopiert hatte.
„Die Symbole stehen für verschiedene Dinge, unter anderem Zutaten“, sagte die Wissenschaftlerin, „Die Fünfecke auf dem Buchblock stehen, glaube ich, für bestimmte Abläufe der Zubereitung. Ich glaube, ich habe ein paar identifiziert und will das überprüfen. Deshalb kochen wir heute mehrmals dieselbe Suppe, jeweils mit leicht verändertem Rezept.“
„Und was ist anders?“, fragte Énvo neugierig.
Tín wies auf den Tisch. Dort lagen einige kleine Papiertüten, die der junge Arzt bisher nicht beachtet hatte. Sie waren mit Zetteln beklebt, beschriftet mit Ideogrammen der Goldenen Bucht.
„Dein Anteil an den Kosten beträgt diesmal zwei Silberstücke“, sagte Tín.
Énvo pfiff durch die Zähne.
„Sechs Silberstücke für die paar Tütchen? Ein stolzer Preis.“
„Dabei berechne ich noch gar nichts für das Risiko“, grinste der junge Koch. „Immerhin sind drei von den Sachen illegal. Ich hab sie unter dem Ladentisch gekauft in einem sogenannten Spezialitätenladen im Gaunerviertel südlich vom neuen Hafen.“
„Und was ist das für Zeug?“, fragte Énvo. Es sollte missbilligend klingen, aber keiner der beiden anderen ließ sich auch nur eine Sekunde täuschen.
„Hochpotenzierter Beilspringerdung“, fing Mdjándja an, „der gilt als Heilmittel von Scharlatanen, ist aber erlaubt. Dann die obligatorischen Gelbtöterhoden, gemahlen, auch erlaubt. Die Meinungen über die Wirkung gehen auseinander. Dann getrocknete Lichtblumen, Pulver aus Saugmottenspeichel und zuguterletzt so eine Art Öl aus den Gebärmüttern von Baumspringbeuteln. Alles ganz ordentlich verboten, wenn ich bei dem Öl auch nicht genau weiß, warum.“
„Lichtblumen und Saugmottenspeichel enthalten ziemlich potente Gifte“, erinnerte sich der junge Arzt an seine Ausbildung.
„Es sind Gifte“, sagte Tín. „Aber es kommt auf die Dosierung an. Keine Angst, ich arbeite regelmäßig mit dem Zeug in unserem Restaurant. Das eine gilt als Potenzmittel für Männer, das andere erhöht laut Tradition die Attraktivität.“
„Beider Geschlechter“, fügte er nach einer kaum merklichen Pause hinzu. Er grinste wieder. „Was meint ihr“, fragte er, „warum unser Lokal so beliebt ist?“
Énvo merkte, wie die beiden anderen ihn mit Dornadleraugen fixierten.
„Wenn ihr denkt, dass ich kneife, habt ihr euch geschnitten“, sagte er.
Vier mühselige Stunden und etliche Anläufe später saßen sie enttäuscht in der Küche. Tín hatte jedem ein Schilf gedreht. Nicht einmal die Hausherrin hatte abgelehnt.
„Irgendwas stimmt nicht“, sagte sie missmutig durch den süßlichen Nebel.
„Die Version mit dem komischen Öl hat am besten geschmeckt“, konstatierte Énvo.
„Ach die waren alle genießbar“, gestand ihm die Wissenschaftlerin zu, „aber es sind eben auch nur Suppen.“
„Vielleicht ist das Ganze einfach nur ein raffiniertes Suppenkochbuch“, sagte Tín zufrieden, der den Abend am meisten genossen hatte. „Wär das so schlimm?“
„Nö“, erwiderte Mdjándja, aber die anderen hörten ihre Enttäuschung.
Énvo teilte sie.
„Wir haben jedes der Fünfecke ausprobiert, aber keine Version hat mit keiner Zutat ein besonderes Ergebnis erbracht“, fasste die junge Frau zusammen. „Entweder ich habe den Symbolen die falschen Zutaten zugeordnet… “
„Glaub ich nicht“, warf Tín ein.
„…oder ich verstehe das System nicht.“
„Wieso denkst du, dass die Symbole stimmen?“, fragte Énvo den jungen Koch.
„Ich kenne die Ideogramme für die Blumen und das Saugmottenpulver“, erwiderte Tín. „Und auch das andere Zeugs gehört zur Fünf-Kräfte-Lehre. Ich hab ja Mdjándjas Entschlüsselungslogik nicht so ganz kapiert, aber das, was rausgekommen ist, ist nicht so besonders ungewöhnlich für die Heilkunde der Goldenen Bucht.“
„Fünf-Kräfte-Lehre?“, fragte Énvo, „was ist das denn?“
„Ehrlichkeit, Geduld, Mitgefühl, sorgfältiges Denken und Zufall“, rasselte die Bibliothekswissenschaftlerin herunter. „Das sind die fünf Größen, die der tugendhafte Dsámanaidse beherrschen muss, wenn er mit dem Leben klarkommen will. Daraus haben sie eine ganze Heilkunde gezimmert. Du weißt schon, alle Kräfte muss man immer im Gleichgewicht halten und so.“
„Wie halte ich denn den Zufall im Gleichgewicht?“, kicherte Énvo.
„Gar nicht“, sagte Mdjándja. „Ich muss die anderen vier Tugenden immer an ihm ausrichten und darf nie vergessen, dass er jederzeit zuschlagen kann.“
„Aha“, sagte Énvo und versuchte vergeblich, ernst zu bleiben. „Und welche Scheibe steht für welche Tugend?“
Mdjándja starrte ihn sprachlos an, die Hand vor dem Mund. Dann packte sie die Pappscheiben und rannte aus der Küche.
„Bin gleich wieder da“, schrie sie über die Schulter.
Tín und Énvo waren mit Abspülen und Aufräumen schon lange fertig, als sie endlich wieder auftauchte.
Stolz hielt sie dem Koch ein kleinen Zettel hin.
Der kratzte sich ausgiebig am Kopf.
„Alle Zutaten zusammen? In dieser Dosis? Das wird ein heftiges Gebräu.“
„Giftig?“, fragte Énvo.
Der Koch las das Rezept noch mal sorgfältig durch.
„Giftig nicht, aber schmecken wird das nicht mehr.“
„An die Arbeit“, sagte Énvo.
Tín hatte recht. Die dickflüssige, braune Soße, die bei diesem Rezept herauskam, schmeckte gelinde gesagt – streng.
Jeder der drei saß vor einem winzigen Schälchen und zwang einen Löffel nach dem anderen in sich hinein.
„Ja, so schmecken tote Kerfe aus dem Außen“, bemerkte Mdjándja naserümpfend. „Genauso hab ich mir das immer vorgestellt.“
„Das sind nicht die Saugmotten“, widersprach Énvo, „das ist die Beilspringerkacke. Was meinst du, Tín?“
Der Koch schüttelte sich ausgiebig. „Ich hab euch gesagt, das wird nicht schmecken.“
„Hier, ihr zwei Süßen“, fügte er hinzu und schob jedem ein Schilf hin. „Die hab ich euch gemacht, um euch zu trösten.“
„Das ist aber lieb, Tín“, sagte Mdjándja mit weicher Stimme.
„Das war übrigens sehr nett von euch beiden, die Küche aufzuräumen, während ich über dem Zeug gebrütet habe“, fügte sie hinzu und strahlte über das ganze Gesicht.
„Ach, für dich machen wir doch alles“, sagte Énvo, der aus irgendeinem Grund nicht mehr aufhören konnte, wie ein Idiot zu grinsen.
„Alles“, echote Tín und nuckelte an seinem Schilf mit einem Gesicht wie ein glücklicher Säugling.
„Kommt, hocken wir uns in mein Zimmer, hier ist es so ungemütlich“, sagte die junge Wissenschaftlerin.
In ihrem Zimmer angekommen, schlug jemand vor, sich aufs Bett zu setzen.
Dann schlug jemand vor, sich unter der Decke zusammenzukuscheln, weil es so kalt war.
Unter der Decke wurde es dann allerdings schnell warm, so dass mit der Zeit ein Kleidungsstück nach dem anderen aus dem Bett flog.
Énvo schlug die Augen auf und erblickte die rissige, vergilbte Decke von Mdjándjas Zimmer hoch über sich. Offenbar war es Morgen.
Er sah nach links, als er eine Bewegung spürte. Tín saß splitternackt auf der Bettkante und reckte sich ausgiebig.
„Schwarzer?“, fragte er in die Luft.
„Würde dafür töten“, erwiderte Mdjándja.
Énvo drehte den Kopf und sah die Wissenschaftlerin neben sich sitzen, ebenfalls keinen Faden am Leibe. Sie schob sich gerade ihre dicke Brille ins Gesicht.
Dann beugte sie sich zu Énvo und streichelte ihm liebevoll übers Haar.
„Und du, junger Arzt mit den goldenen Händen?“, fragte sie zärtlich. „Auch einen?“
„Ja – doch“, war alles, was der junge Arzt herausbrachte, der nicht die geringste Ahnung hatte, wie golden seine Hände waren.
Er versuchte sich aufzurappeln und stieß mit Tín zusammen, der noch mal ins Bett zurückgekehrt war, um sein Hemd unter dem Kissen hervorzuangeln.
„Nicht nur deine Hände sind golden“, grinste der und drückte Énvo einen Kuss mitten ins Gesicht.
„Ich bin zuerst im Bad“, rief Mdjándja von der Tür aus.
Dann waren sie weg.
Énvo ließ sich zurück aufs Kissen fallen. Nie wieder, schwor er sich verzweifelt – nie wieder in seinem ganzen Leben würde er schilfen.
Er hatte die heißeste Nacht seines Lebens hinter sich und erinnerte sich an nichts.
[Wahlfamilien en gros | Datum der VÖ: 09. April 2020]
© Text und Cover: Martin Engelbrecht;
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
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