Irgendwie dazwischen | Sabine Nagel
Leseprobe
›Irgendwie dazwischen‹
Sabine Nagel
Drei Wochen im Herbst 2009. Für Manu und Percy geht es in diesen Tagen um alles, was sie sind und was sie waren. Aber sie haben einander, vielleicht jedenfalls, wenn man es bloß genau wüsste, wenn man sich doch nur sicher sein könnte.
Für Manu wäre es am besten, wenn die Zeit stehen bliebe. Denn alles ist eigentlich ganz gut so, wie es ist. Zwar ist Manus Mutter entweder völlig überdreht oder liegt leidend im Bett, doch damit kommt Manu klar, nicht zuletzt wegen der Freundschaft zu Phil, Tom, Lenny und Steffen.
Dann aber begegnet Manu dem verschlossenen Einzelgänger Percy, der eine Schreibschwäche hat und nie was sagt. Wer hätte gedacht, dass Percy plötzlich für Manu so wichtig wird? Manu beginnt, sich selbst Fragen zu stellen. Vor allem deswegen, weil es mit Percy so anders ist als mit Phil oder den anderen. Aufregend. Neu.
Wenn das mit Percy nur nicht alles durcheinanderbringen würde, was Manu bisher von sich selbst dachte, dann könnte es auch schön sein.
Ein bewegender und dichter Roman, in dem das Schweigen manchmal ganz laut werden kann. Wo die Worte oft knapp sind und dennoch reiche Bilder zaubern – eine Geschichte über Verzweiflung, Mut und die Wucht des Glücks.
Ich lege auf und schalte das Handy ab.
Spätestens jetzt kennt Frau Claasen meinen richtigen Namen. Es fällt mir schwer, den Blick zu heben und sie anzuschauen. Aber sie guckt mich ganz normal an, eine ganze Weile. Nachdenklich, aber offen. Freundlich. Dann erhebt sie sich und sagt: „Ich suche mal Bettzeug raus.“
Percy und ich bleiben am Küchentisch zurück und schweigen. Ich trinke ein paar Schlucke aus dem Wasserglas und lausche dem Wind draußen, dem Kühlschrank hier drinnen und den Geräuschen, die von oben von Percys Mutter zu uns herunterdringen.
Schließlich wage ich einen Blick zu Percy. Ich sehe direkt in seine graugrünen Augen und er in meine. Er lächelt ein bisschen, und automatisch tue ich es auch. Und mir wird warm. Oder heiß.
Percy räuspert sich. „Gehn wir hoch?“
Ich nicke. Ich glaube, wenn ich jetzt sprechen müsste, wäre meine Stimme so belegt, dass ich keinen Ton rausbringen würde.
Ich bin schon ein paarmal hinter Percy die schmale und dunkle Treppe hochgegangen, und jedes Mal hat es sich anders angefühlt. Diesmal leuchtet uns von oben warmes Zimmerlicht aus Percys Zimmer und dem Schlafzimmer seiner Mutter entgegen. Und diesmal fühle ich mich so komisch kribbelig, während ich dicht hinter Percy die Stufen hochsteige. Da ist auf einmal ein Pochen in meinem Hals, ein starkes und unruhiges, es kommt von unten aus dem Brustkorb und hämmert wild gegen meine Kehle.
Als wir oben ankommen, steht Frau Claasen in ihrer Zimmertür mit einer frisch bezogenen Bettdecke und einem Kopfkissen über dem Arm. Sie fragt, ob ich im Wohnzimmer schlafen will oder bei Percy. Ich schaue zu Percy rüber, er steht so dicht neben mir, wir wechseln einen Blick, einen langen, und ich fühle mich so verbunden mit Percy, am liebsten würde ich ihn berühren. Er sagt nichts und ich sage nichts und trotzdem weiß ich seine Antwort genauso sicher, wie ich meine weiß.
„Bei Percy“, antworte ich mit rauer Stimme.
Percy nickt.
„Gut“, sagt Frau Claasen, ganz ruhig und unaufgeregt, als wäre es die normalste Sache der Welt, dass mitten in der Nacht plötzlich ein Junge vor ihrer Haustür steht, der eigentlich ein Mädchen ist und dessen Herzschlag durch seinen ganzen Körper wummert, bloß weil er dicht neben ihrem Sohn steht, und dass dieser Junge oder dieses Mädchen dann auch noch im Zimmer ihres Sohnes übernachten wird. „Nimmst du schon mal das Bettzeug?“
Die nächsten Minuten sind wir alle drei ziemlich geschäftig. Percy und seine Mutter holen eine Gästematratze aus dem Schlafzimmer und legen sie in Percys Zimmer, nicht neben Percys Bett, sondern auf die andere Seite des Schreibtisches unter die gegenüberliegende Dachschräge. Percy und ich beziehen die Matratze mit einem Spannbettlaken und legen die Bettdecke und das Kopfkissen darauf. Anschließend gibt Percy mir noch einen von seinen Schlafanzügen aus dem Schrank, und seine Mutter sucht eine neue Zahnbürste und ein Handtuch aus einer Kommode im Bad. Dann meint sie, dass wir ja sicher noch ein bisschen brauchen und dass sie deshalb eben schnell zuerst ins Bad gehen wird, wünscht uns eine gute Nacht und schließt dann Percys Zimmertür von außen.
Und Percy und ich sind allein.
Er steht rechts vom Schreibtisch und ich links.
Draußen fegt der Wind über das Dach und am Fenster vorbei. Die Fensterläden klappern leise. Es klingt ein bisschen gruselig und ein bisschen heimelig zugleich.
„Deine Mutter ist so normal“, sage ich schließlich, um die Stille zwischen Percy und mir zu durchbrechen.
Percy zuckt einfach mit den Achseln. Jeder andere würde fragen: Was ist mit deiner Mutter? Aber er tut es nicht. Er wird warten, bis ich es von selber erzähle.
„Gehn wir nochmal zum Hafen?“, fragt er stattdessen.
Es ist bald Mitternacht und morgen ist ganz normal Schule. Aber vermutlich kann ich eh nicht einschlafen, wenn ich nachher im Bett liege. Und es war so schön am Hafen mit Percy nach unserem Ausflug ins Watt. Jetzt, im Sturm, im Dunkeln, wird es noch aufregender sein.
„Was sagt deine Mutter dazu?“
Wieder hebt er die Schultern. „,Bleibt nicht so lange‘?“
„Echt jetzt?“
Er grinst. „Vielleicht sagt sie auch: ,Vergesst den Schlüssel nicht.‘“
„Jetzt will ich schon allein deshalb zum Hafen, um herauszufinden, ob deine Mutter wirklich so reagiert.“
„Na dann …“ Percy geht an mir vorbei in den kleinen Flur und klopft an die Badezimmertür.
„Mama?“
Ich kann hören, wie seine Mutter drinnen im Bad das Wasser abstellt.
„Ja?“
„Wir gehen noch kurz raus zum Hafen.“
„Bleibt nicht so lange. Und nehmt den Schlüssel mit. Ich möchte nachher nicht geweckt werden!“
Mir fällt fast die Kinnlade runter, während Percy mich auf eine Art angrinst, wie er es noch nie getan hat.
„Machen wir!“, ruft er durch die geschlossene Tür, und dann schiebt er mich sanft an der Schulter in Richtung Treppe. Von der Stelle an meinem Schulterblatt, die er kurz berührt hat, breitet sich augenblicklich ein warmes Prickeln über meine gesamte Haut aus, bis in die Fingerspitzen.
[Irgendwie dazwischen | Datum der VÖ: 29. Oktober 2021]
© Text: Sabine Nagel
© Cover: Florin Sayer-Gabor | Sabine Nagel
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
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