Kays Quest – eine fantastische Reise ins Wohin | Sigune Reichardt
Leseprobe
›Kays Quest – eine fantastische Reise ins Wohin‹
Sigune Reichardt
Love is Love – um Gottes willen?
Kay ist in einer streng evangelikalen Gemeinde aufgewachsen. Als ihr die lebenslustige Bridget über den Weg radelt, beginnen die Ausrufezeichen hinter Kays religiösen Überzeugungen zu bröckeln. Mit unbequemen Fragen beunruhigt sie ihr Umfeld und besonders ihren Ehemann Matthias.
Bei einer weiteren Begegnung mit Bridget verstärken sich Kays unerlaubte Gefühle für die andere Frau. Immer tiefer gerät sie in ihre Glaubens- und Ehekrise. Bei einem Sabbatical auf einer schottischen Insel helfen ihr die mystische Landschaft, drei Männer, die ihr zu Freunden werden, und ein geheimnisvolles Gemälde, ihr Weltbild neu zu ordnen.
Pack noch heute deine Koffer und begleite Kay auf ihrer Reise ins Wohin!
Kay geht in eine Kirche: Vielleicht findet sich ja im Gebet ein Weg, mit ihren verwirrenden Gefühlen für Bridget klarzukommen. Hinter dem Altar stehen, im Halbkreis angeordnet, neun Steinskulpturen von Männern in historischen Gewändern.
[…]
Ein Sonnenstrahl fällt nun durch das Turmfenster und erleuchtet das Kreuz. Erneut sehe ich zur Christusfigur hinauf. Ihre Gesichtszüge kann ich von hier unten nicht erkennen. Warum ist Bridget mir begegnet?, frage ich Jesus dennoch stumm.
Im Seitenschiff hinter dem Rundbogen neben mir ertönt ein lautes Klatschgeräusch. Von einem Wischmopp wohl, denn im nächsten Moment dringt mir der scharfe Geruch eines Putzmittels in die Nase und überdeckt das kirchentypische Duftgemisch aus Holz, Kerzen und Weihwasser. Womöglich brauche ich, um Gott wirklich nahezukommen, einen schlichteren Raum, wie unseren Gemeinde-Gottesdienstsaal zu Hause. Ich greife nach meinem Rucksack und will aufstehen.
„Eine Prüfung.“ Ganz langsam hebe ich den Blick. Die Stimme kam nicht von oben, vom Kreuz her, sondern von unten, aus dem mittleren der neun Quader. „Die Sünderin ist dir begegnet, um dich zu prüfen, Kind Gottes“, verrät mir der große Bärtige mit tiefer Stimme. „Deine Treue, deinen Gehorsam, deine Standhaftigkeit: Geprüft wirst du.“
Will ich das hören? Die Vorstellung, dass Gott uns Gläubige durch Versuchung prüft, ist mir nicht neu. Irgendwie habe ich wohl gehofft, dass die Bitte, mich eben nicht in Versuchung zu führen, die ich am Ende jedes Vaterunsers über viele Jahre vorgebracht habe, mich bis zu meinem Lebensende davor schützen würde.
Die steinernen Lippen des Bärtigen öffnen sich wieder. Diesmal jedoch nicht, um zu reden: Einen Ton stimmt er an, ein A, und im nächsten Moment nehmen die anderen Figuren im Halbkreis es summend auf. Dann öffnen alle neun gleichzeitig ihre Münder und singen:
„Du wirst geprüft, geprüft. Deine Treue, dein Gehorsam, deine Stand-haf-tig-keit.“ Mir stockt der Atem. Das Lied ist eigentlich keines, eher eine Art liturgischer Gesang, immer nur drei, vier Töne rauf und runter: „Prüfung, Prüfung, Prü-ü-ü-ü-fung.“
Ich schlage die Hände vors Gesicht. Diese kalten Augen sollen mich nicht mehr anstarren! Nun dringt von hinten auch noch ein tiefes Dröhnen an meine Ohren und dann durch meinen ganzen Körper: die Orgel! Ich drehe mich um, suche und finde das Instrument auf der Empore über dem Eingang. Die Bank vor der Orgel ist leer. Kein Mensch ist dort oben zu sehen; nur die Figuren in den bunten Glasfenstern oberhalb der Orgel. Und die stimmen in den Gesang des steinernen Chors mit ein. Die Orgel begleitet ihn; auf und ab, auf und ab bewegen sich die Tasten.
Ich will hier weg. Aber wie vorhin im Museum bin ich wie erstarrt. Immerhin gelingt es mir, den Blick von der Orgel und den bunten Fenstern zu lösen.
Die Betenden in den Bankreihen hinter mir halten alle die Köpfe gesenkt oder die Augen geschlossen. Niemand scheint mich zu bemerken. Ganz vorne kommen zwei Frauen aus dem rechten Seitenschiff in den Altarraum, bleiben stehen und betrachten die Skulpturen, weisen sich gegenseitig flüsternd auf Details hin, während der Chor weitersingt, immer dieselben Worte: Treue. Gehorsam. Standhaftigkeit. Prüfung. Und immer dieselben Töne.
„Seid still, ihr habt mir gar nichts zu sagen!“, rufe ich und stehe abrupt auf. Wären die Bänke nicht im Boden verankert, hätte ich meine womöglich umgerissen. Von den hohen Wänden zurückgeworfen, lässt mich der Klang meiner eigenen Stimme zusammenzucken.
Die beiden Frauen vorne drehen sich um, starren mich an und gehen dann kopfschüttelnd weiter zum linken Seitenschiff, wo sie hinter einer Säule verschwinden.
Sollen sie denken, was sie wollen! Wenigstens hat mein Ausruf Chor und Orgel tatsächlich zum Schweigen gebracht. Und mich aus meiner Erstarrung befreit. Meinen Rucksack vor mir umklammernd, steuere ich die drei Rundbögen vor dem Ausgang an. Bloß nicht wieder zur Orgel raufschauen! Auf keinen Fall will ich das Instrument und die Gläsernen wieder zum Tönen animieren, indem ich sie auch nur ansehe. Stattdessen halte ich den Blick auf die Bodenfliesen gerichtet, von denen meine Schritte nun doppelt so laut widerzuhallen scheinen wie vorhin. Die Blicke der Leute aus den Bankreihen spürbar auf mir, verdoppele ich mein Tempo in Richtung Ausgang. Endlich im Freien, atme ich tief durch, schließe die Augen und halte mein Gesicht in den Wind, bis eine Stimme neben mir mich erneut zusammenfahren lässt.
„Is eana ned guad, junge Frau?“, fragt ein weißhaariger und bärtiger Mann. „Sie san ja ganz kasig.“
„Es geht schon“, stoße ich hervor.
Er tritt auf mich zu und greift nach meinem Arm.
„Sitzens eana liaba a moi a bisserl hi und dringans a weng wos. Hams wos dabei?“
„Machen Sie sich keine Sorgen, ich komme zurecht.“
Damit entziehe ich ihm meinen Arm, lasse ihn stehen und laufe schnurstracks in Richtung Isartor.
Prüfung. Treue. Standhaftigkeit. Gehorsam … Die Sünderin.
Wieso hat der Große Bridget nicht einfach bei ihrem Namen genannt? Weiß er auch, wie ich die Sünderin sehe? Wie oft ich an sie denke? Wie gerne ich mich an unsere Abschiedsumarmung erinnere? Dass ich mir gewünscht habe, die S-Bahn würde ausfallen und wir könnten noch zwanzig Minuten länger dort so stehen?
Die fünf Worte haben sich in meinem Kopf eingenistet. Ich zähle von hundert abwärts bis null und multipliziere in Dreierschritten wieder zurück, rufe mir die Geburtstage aller Verwandten ins Gedächtnis. Nichts hilft: Wie Wasser durch ein Leck in einem Rohr, das man vergeblich versucht, mit Putzlappen zu verdichten, drängen sich die Worte immer wieder nach vorne und treiben mir Tränen in die Augen.
Kurz vor dem S-Bahnhof zieht ein leuchtend rotes Plakat in einem Kino-Schaukasten meinen Blick auf sich. Aus seiner Mitte schaut mich eine Frau mit rotgelockter, altertümlicher Hochsteck-Frisur aus blauen Augen an. Born to Power ist über ihrem Kopf zu lesen und unterhalb des Kinns in gelber Schrift: Mary Queen of Scots. Von dem neuen Film über die schottische Königin Mary Stuart habe ich schon gehört. Ziemlich brutal soll er sein. Und der läuft hier tatsächlich im Nachmittagsprogramm? Wie ungewöhnlich! Ein Familienfilm ist das ja nun gerade nicht. Aber mir kann es nur recht sein: Ein Film wie dieser wird mich weit wegtragen und den Chor mitsamt seinem Lied vergessen lassen. Hoffentlich!
[Kays Quest – eine fantastische Reise ins Wohin;
Datum der VÖ: 28. August 2024]
© Text: Sigune Reichardt
© Cover: David Hayward; Lena Adolph
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
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