23. November 2024

Leseprobe Bitchboy | Elian Mayes

Exklusive Leseprobe

›Bitchboy‹
Elian Mayes
Klappentext:
Milan wünscht sich nichts mehr als spießige, langweilige Normalität in seinem Leben. Mit einem Bruder, der den städtischen Straßenstrich vollkommen und gnadenlos im Griff hat, ist er davon allerdings so weit entfernt, dass er kaum mehr davon zu träumen wagt. Das und nichts anderes ist seine Normalität. Auf einer Party trifft er auf verhängnisvolle Weise jemanden wieder, an dessen Namen er sich zunächst nicht erinnern kann und von dem er dachte, dass er ihn nie wiedersehen würde. Jay hat vor einigen Jahren fast den Absprung aus dieser düsteren Welt geschafft, aber nun droht sie, ihn erneut in den Abgrund zu reißen. Diesmal endgültig …
© Elian Mayes

Jay? Jay! Jetzt mach die scheiß Tür auf!« Leo hämmerte gegen das Holz und war kurz davor, es entzwei zu treten. Nicht, dass er das wirklich geschafft hätte, aber er hatte große Lust dazu. Zwei Tage hintereinander hatte er keinen Mucks von Jay gehört. Nicht einen! Weder hatte er auf seine SMS geantwortet, noch hatte er zurückgerufen oder war zur Arbeit erschienen.
Und das war alles, aber ganz sicher nicht typisch für ihn!
»JAY!«
Es bestand noch immer die Möglichkeit, dass er gar nicht da war, schoss es Leo durch den Kopf. Das hätte ihn vor ganz neue Rätsel gestellt, denn dann hätte er keinen Schimmer gehabt, wo er hätte nach ihm suchen sollen.
Ihm fiel ein wahrer Felsbrocken von seinem malträtierten Herzen, als er Geräusche von jenseits der Tür hörte. Etwas knarrte, dann wurde sie geöffnet.
»Gott sei Dank! Jay, ich dachte schon, dass …« Der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken, als sein Blick auf seinen besten Freund fiel. Jay lehnte mit dem Rücken an der Wand und er war so blass, dass Leo gewettet hätte, dass er sich nur deswegen anlehnte, weil er sonst zusammengebrochen wäre.
»Jay! Was zur Hölle …!« Hektisch stürzte Leo in die kleine Wohnung und riss seinen Freund in seine Arme. Nur am Rande bekam er das schmerzerfüllte Ächzen mit, das er diesem so entlockte, hielt ihn eine Armlänge von sich entfernt und musterte ihn argwöhnisch.
Noch nie zuvor hatte Leo Jay so fertig gesehen. Eigentlich traf das Wort »fertig« es nicht einmal im Ansatz. Er konnte es kaum wirklich benennen, aber irgendetwas war anders als sonst.
»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte er fassungslos, runzelte die Stirn, als sein Gegenüber ein gequältes Lächeln zeigte.
»Nichts von Bedeutung«, murmelte Jay leise, deutete dann mit einer halbherzigen Handbewegung Richtung Wohnzimmer. »Komm rein, aber guck dich nicht zu genau um. Ist etwas wüst gerade …«
Leo hörte ihm jedoch schon gar nicht mehr zu. Jay sah so kaputt aus, so … zerstört. Sein Blick war so stumpf. Nichts von Bedeutung? Der scherzte doch wohl.
»Nichts von Bedeutung?«, wiederholte er laut, seine Stimme ungläubig. »Wann hast du denn zuletzt in den Spiegel gesehen? Du siehst aus, als hätte dich ein Bus überfahren!«
»Ich …« Jay stockte. »Es geht mir schon besser«, erklärte er dann scheinbar gezwungen ruhig. Er trug noch immer dieses im Vergleich zu seiner Erscheinung fast grotesk anmutende Lächeln zur Schau, das sicher vieles war, aber kein bisschen echt, und das Leo ihm nicht einmal dann abgekauft hätte, wenn er hackevoll und dazu high gewesen wäre.
»Sicher! Und draußen regnet es kleine pinke Einhörner! Was in aller Welt ist passiert?« Er wollte es wissen! Sollte jemand anderes dafür verantwortlich sein, würde Leo denjenigen aber so was von dem Erdboden gleichmachen!
Jay antwortete auf diese Frage jedoch einfach nicht, machte sich stattdessen vorsichtig los und ging – vielmehr humpelte er – voran Richtung Küche.
So was kam doch nicht einfach so von nichts! Was war denn passiert?
Plötzlich kam Leo ein Gedanke.
»War das René?«, fragte er scharf, weil er sich einfach keinen anderen Reim darauf machen konnte. Außerdem traute er diesem komischen Kerl nicht über den Weg und wer wusste schon, wie der so tickte?
»Nein«, antwortete Jay sofort und schüttelte den Kopf dabei, »das würde er nicht.«
Da war Leo sich nicht ganz so sicher, aber zumindest klang Jay überzeugt davon.
»Wer dann?«, fragte er weiter. Inzwischen hatten sie das Wohnzimmer durchquert, das eindeutige Spuren einer Party aufwies. Als »wüst« hätte er es allerdings noch nicht bezeichnet. Flaschen standen herum, Kippen lagen daneben und hier und da lagen ein paar Pizzakartons. Nichts, das sich nicht innerhalb kurzer Zeit hätte beseitigen lassen. Okay, der Boden schien zu kleben, vielleicht war da auch ein bisschen … Blut? Aber ein, zwei Mal durchwischen und die Sache wäre erledigt.
»Also, wer war das?«, wiederholte Leo nachdrücklich, weil Jay nicht antwortete, stattdessen ein Glas aus einem Küchenschrank angelte und ihm mit einem fragenden Blick hinhielt. »Ja, bisschen Wasser bitte«, brummte Leo nebenbei und nagelte seinen Freund dann wieder mit seinem Blick fest. Jay jedoch ignorierte das geflissentlich, bis Leo fast der Kragen platzte. »JAY! Ich will jetzt wissen, wer dich so fertig gemacht hat!«
»Niemand hat mich fertig gemacht. Es geht mir gut.« Nun machte er auch noch Anstalten, sich nach den Scherben zu bücken, die in der Küche auf den Fliesen lagen. So, wie er bei diesem Versuch ächzend sein Gesicht verzog und schließlich einfach auf den Boden sank, hätte es nicht ironischer sein können.

»Klar. Es geht dir blendend«, knurrte Leo mit einem Blick auf ihn sarkastisch, nahm Jay die Scherben aus der Hand und schmiss sie kurzerhand ins Spülbecken.
Jay verfolgte die Bewegungen stumm mit den Augen, er selbst saß noch immer am Boden. Ihre Blicke trafen sich kurz, dann senkte er den seinen. Verdammt, was war denn los mit ihm?
»Komm, ich bring dich ins Krankenhaus«, entschied Leo und hielt Jay die Hand hin. Der hob jedoch ruckartig den Kopf und schüttelte ihn heftig.
»Nein. Auf keinen Fall.«
»Schau dich doch an. Du kannst kaum stehen!« Hilflos warf Leo die Arme in die Luft. »Jemand, der Ahnung hat, sollte sich das ansehen.«
»Nein. Mir geht’s gut.« Dass Jay trotz seines offensichtlichen Zustands so beharrlich war, irritierte Leo zunehmend.
»Dann kommst du zumindest mit zu mir.« Den Entschluss hatte er in wenigen Sekunden gefasst. Wohl wissend, dass Jay protestieren und Julian nicht begeistern sein würde, aber beides war ihm vollkommen egal. Er würde seinen besten Freund in diesem Zustand nicht allein lassen. Völlig egal, was passiert oder nicht passiert war.
Zu seiner Verblüffung sagte Jay erst einmal gar nichts dazu. Er sah ihn nur stumm an und schien dann in sich zusammenzusinken.
»Aber René wird …«, fing er an, doch Leo dachte nicht eine halbe Sekunde daran, ihn ausreden zu lassen.
»Siehst du ihn hier irgendwo?«, keifte er schärfer als beabsichtigt, »René hat keinen Job und trotzdem ist er nicht hier und kümmert sich um dich, wie er es sollte, wenn es dir so schlecht geht! Und nein, kein Wort! Es geht dir schlecht!«
Jay klappte ergeben den Mund zu und sah auf seine nackten Füße.
»Komm«, meinte Leo und hielt ihm eine Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Jay nahm sie schweigend. Wieder zuckte der Ausdruck von Schmerz über sein Gesicht, dann lehnte er sich scheinbar erschöpft an die Theke.
»Und du willst mir nicht sagen, was passiert ist?«, versuchte Leo es noch einmal. Schließlich gab er seufzend auf, als Jay es abermals einfach überhörte. Er konnte ihn schlecht zwingen, so gern er es getan hätte.
»Gut, dann nicht.« Er sagte es mehr zu sich als zu Jay; der reagierte auch gar nicht, sondern starrte ins Leere. Leo blies geräuschvoll die Luft durch die Nase und griff dann nach dem Handgelenk, mit dem Jay sich auf die Theke stützte.
»Komm, wir suchen dir was zum Anziehen und so zusammen und dann fahren wir zu mir …«
Allein, dass Jay kein einziges Widerwort brachte, beunruhigte Leo sehr, aber wenn der nicht mit der Sprache herausrückte, was konnte er tun?
Obwohl er sich in der Wohnung kaum auskannte, fand Leo das Schlafzimmer auf Anhieb. Es war winzig, was es erleichterte, sich schnell einen Überblick zu verschaffen. Ohne groß darüber nachzudenken, ging er zum Schrank, öffnete ihn und griff einfach hinein. Was nicht Jay gehörte, wäre ihm auf alle Fälle nicht zu klein.
»Unterwäsche?«, fragte er und Jay nickte in Richtung einer der Schubladen.
Schnell war auch eine Tasche gefunden, in die Leo einfach alles hineinstopfte, was er so fand. Danach zog er Jay wieder auf den Flur.
»’ne Zahnbürste und so hab ich noch, das brauchst du nicht mitnehmen«, erklärte er und hielt sich nachdenklich den Finger an die Lippen. Hatte er etwas vergessen?
»René …«, murmelte Jay irgendwann leise, »ich kann doch nicht einfach verschwinden.«
»Ich schreib ihm einen Zettel«, brummte Leo grimmig, ließ Jay stehen und ging zurück ins Wohnzimmer, wo er nach Schreibzeug Ausschau hielt. In irgendeiner der Schubladen wurde er schließlich fündig und kritzelte eilig ein paar erklärende Worte auf einen Zettel, den er auf den klebrigen Tisch legte.
Ja, jetzt war er sich sicher: Da war eindeutig auch Blut dabei. Den Schauer ignorierend, der ihm dabei den Rücken hinunterrauschte, wollte Leo sich abwenden, aber sein Blick streifte einen anderen Zettel, der dort ebenfalls lag …

[Bitchboy | Datum der VÖ: 09. März 2020]

© Text und Cover: Elian Mayes | deadsoft Verlag;
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
Unbezahlte Werbung.