Rainbow Rocket | Linn Schiffmann
Leseprobe
›Rainbow Rocket‹
Linn Schiffmann
Espen hat zwei Leidenschaften: Frauen und die Raumfahrt. Als er hört, dass neue Astronautenanwärter gesucht werden, muss er sich einfach bewerben. Super ist: Espen wird angenommen. Blöd hingegen: Er hat sich den Platz erschwindelt, indem er vorgibt schwul zu sein. Dabei steht er doch auf Frauen!
Doch dann trifft er Michel und mit einem Mal ist Espen sich nicht mehr so sicher…
EB2, bitte kommen. … EB2, bitte antworten! … EB1 an Kontrollraum, EB2
antwortet nicht. Ich gehe checken, ob es nur an der Technik liegt oder ob EB2
das Bewusstsein verloren hat.“
Espen klickte den Haken von einer seiner Sicherheitsleinen in den nächsten
Handlauf und hangelte sich zu Michel hinüber. Der andere Astronautenanwärter
regte sich nicht, hing ohne Spannung in der Leine und hatte die Augen
geschlossen. Espen berührte ihn am Arm, schüttelte ihn. Keine Reaktion. „Michel,
kannst du mich hören?“
Immer noch keine Antwort.
Mit einem Mal durchfuhr Espen eine noch nie gekannte Angst. War das noch das
Rettungsszenario oder hatte Michel wirklich das Bewusstsein verloren? Espen
drehte sich zu einem der Sicherheitstaucher um, suchte Augenkontakt. Ruhig
erwiderte der Taucher seinen Blick.
Okay, wird schon alles in Ordnung sein, dachte sich Espen, aber die Unsicherheit
blieb. Wieso hat Michel die Augen geschlossen? Das ist doch gegen das
Protokoll. Soll ich den Kontrollraum darauf aufmerksam machen? Aber dann wirft
das vielleicht ein schlechtes Licht auf Michels Arbeit und er könnte es mir übel
nehmen. Halt, seit wann interessiert es mich überhaupt, was Michel über mich
denkt?
Espens Kopfhörer knisterte. „Kontrollraum an EB1, was ist dort unten los?“
„EB2 hat das Bewusstsein verloren. Leite Rettungsmission ein“, sagte Espen den
Satz, den sie vorher im Unterricht geübt hatten.
„Bestätigt. Rettungsmission starten.“
Espen löste eine der Sicherheitsleinen von Michels Anzug und befestigte den
Haken an seinem eigenen. Seine Hände bebten. Er hoffte, die Tauchhandschuhe
verhinderten, dass das jemand sah.
Langsam hangelte Espen sich und Michel von einem Handlauf zum nächsten.
Wie viel Zeit ist schon vergangen?
Für die Rettungsmission hatte Espen nur zwanzig Minuten Zeit.
Und was, wenn es ein richtiger Notfall ist? Wenn Michel wirklich das Bewusstsein
verloren hat? Sollte ich ihn dann nicht einfach auf direktem Wege aus dem
Wasser schaffen?
Mit einem Mal kam Espen nicht mehr vorwärts. Er zog und zerrte an der
Sicherheitsleine, aber nichts bewegte sich.
„EB1, deine Sicherheitsleine hat sich an deinen Füßen verheddert.“
Espen schaute hinab. Tatsächlich, die Leine hatte sich zwischen seinen Füßen
mit einer Sicherheitsleine von Michel verknotet. Espen riskierte einen weiteren
Blick in Michels Gesicht. Immer noch waren die Augen des anderen geschlossen.
Scheiße, dachte Espen. Scheiße, ich schaff es auf keinen Fall mehr rechtzeitig
nach oben. Seine Atemzüge wurden immer hektischer.
„EB1, Ruhe bewahren! Konzentrier dich darauf, die Leinen um deine Füße zu
entwirren.“
Aber das half Espen jetzt auch nicht mehr. Er musste hier raus. Michel musste jetzt sofort aus dem Wasser, bevor sie beide hier unten erstickten.
„EB1, nimm drei tiefe Atemzüge! Du kannst das schaffen.“
Espen hörte nur noch Bruchstücke der Nachrichten aus dem Kontrollraum. Vom Rand seines Gesichtsfelds aus krochen schwarze Schatten auf ihn zu. Ein Surren klang in seinen Ohren und wurde mit einem Mal immer lauter.
Plötzlich spürte er die Hand eines anderen auf seinem Arm. Sein Augenmerk folgte der Hand einen Arm hinauf, bis er in Michels Gesicht sah. Der andere hatte die Augen geöffnet und schaute ihn besorgt an. Er bewegte die Lippen, doch außer dem Surren drang nichts mehr an Espens Ohren. Sein Gesichtsfeld wurde immer kleiner. Die Schwärze verschluckte Michels Gesicht. Ein Summen, dann Dunkelheit.
Jemand tätschelte ihm die Wange. Jemand mit blauen Augen. Aber Michel hat braune Augen. Michel. Michel war bewusstlos, Michel war am Ersticken!
„Michel!“, stieß Espen panisch hervor und versuchte sich aufzurichten, um einen Blick auf den anderen zu erhaschen.
Die Hand, die ihm zuvor die Wange getätschelt hatte, hielt ihn zurück.
„Espen, bist du wieder bei uns? Weißt du, wo du dich befindest?“
Espen schaute sich um. Er lag neben dem Schwimmbecken.
„Unterwassertraining“, stieß Espen hervor.
„Gut, und wer bin ich?“
„Doktor?“
„Genau.“ Mittlerweile hatte der Arzt zwei Finger an Espens Handgelenk gelegt und schaute konzentriert auf seine Uhr. Dann ließ er das Handgelenk sinken.
„Weißt du, was passiert ist?“
Röte schoss in Espens Wangen. „Ich … ich glaube, ich hatte eine Panikattacke.“
Der Doktor nickte. „Ist dir das schon einmal im Leben passiert?“
Espen schüttelte den Kopf. „Nein, nie.“
„Und was meinst du, hat diese Attacke ausgelöst?“
„Ich bin mir nicht sicher.“
„Nun gut. Jetzt gehst du erst mal duschen und ruhst dich aus. Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt nach dem Grund forschen.“
Espen stimmte zwar leise zu, aber er kannte den Grund bereits. Er brauchte nicht danach zu forschen. Ein harter Stein bildete sich in seinem Magen. Michel war der Grund.
[Rainbow Rocket | Datum der VÖ: August 2021]
© Text & Cover: Linn Schiffmann
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
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